Die Deppen der Nation

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Früher nannte ich sie die Arbeiterklasse. Das war cool. Es klang nach Kämpfen und Leiden, nach Gerechtigkeit und Solidarität, nach Revolution und vor allem: nach Karl Marx. Der wiederum nannte sie „das Proletariat“.
Das wiederum klang nun nicht ganz so cool; denn „Prolet“ wollte nun keiner sein, erst recht keiner von denen. „Arbeiterklasse“ hörten die eigentlich auch schon nicht so gern, lieber: „die deutschen Arbeitnehmer“.
50 lange Jahre hat es gebraucht, bis ich endlich kapiert habe, wie diese Menschengruppe wirklich bezeichnet wird. Obgleich sich der Staat meine Ausbildung zum, und erst recht meine Tätigkeit als Sozialwissenschaftler einen Haufen Geld hat kosten lassen. War aber auch nicht ganz leicht, da drauf zu kommen, egal: schlussendlich hat sich die ganze Kohle doch noch gelohnt. Ich weiß nämlich jetzt, wie man diese Leute zu nennen hat. Sie heißen: die

Mittelschicht

Oder, wie Guido Westerwelle, der Führer ihrer Partei sich auszudrücken pflegt: „die Deppen der Nation“. Das hat der Chef der Partei der Arbeiterklasse, pardon: der Mittelschicht, zwar etwas derbe ausgedrückt, fast schon provozierend, aber Recht hat er ja. Die sind aber auch so was von deppe.
Unter uns, das habe ich schon Jahrzehnte früher begriffen – mir war halt nur der Name nicht geläufig. Mittelschicht, lustiger Name. Da ich – wie gesagt – die Dinge, sorry: die Menschen nicht auf den Kantschen Begriff bringen konnte, pflegte ich sie stets, etwas salopp, zu bezeichnen als „die Prolos“. „Die Deppen“ zu sagen, hätte ich mich nicht getraut. Kannste mal sehen, der Guido.

Possierliche Spezies

An der Uni haben wir gekämpft, nicht nur Guido, der Anwaltssohn, und ich, das Gossenkind, sondern irgendwie alle Mittelschichtler. Auf der Herrentoilette stand der Slogan geschrieben: „Jetzt kann uns wirklich nur noch eine starke FDP retten!“ Meine Parole hatte ich zwar nicht an die Klowand gekritzelt (ich hatte halt schon damals gute Manieren), sondern immer wieder öffentlich verkündet – man muss halt zu seiner Grundauffassung stehen. Sie lautete (und lautet): „Sozialismus Ja, Prolos an der Macht Nein!“ (© Jurga)
Bis jetzt läuft die Sache ja ganz gut; nur manchmal, in depressiven Momenten, bin ich besorgt, wie lange die Parole noch durchzuhalten ist. Jetzt zum Beispiel ist es mal wieder so weit.
Jetzt, im Vorfeld eines bedeutenden Fußball-Turniers, werden aus den ganz normalen Deppen wieder einmal „die Deppen der Nation“. Ganz besonders possierlich, wie Prof. Dr. Grzimek gesagt hätte, die männlichen Exemplare dieser Spezies.

Flitzende Fähnleinführer

Oder gestern – auf der Autobahn rauscht mit geschätzten 200 Stuckies so ein Mittelschichtler mit seinem getunten Mittelklassewagen an mir vorbei. Deutsches Fähnlein auf der Kühlerhaube vorne links und, damit es bei dieser Geschwindigkeit auch dem letzten sichtbar ist, auch noch eins vorne rechts. Obwohl leidgeplagt von Spritpreisen über der Schmerzgrenze, steht der Deppe der Nation zu seinem Deutschtum – wenn auch rasend. Als flitzender Fähnleinführer.
Echt possierlich, sagen Sie es doch selbst!

Werner Jurga, 01.06.2008

 

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