Günter Gloser

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Gabor Steingart ist ohne Frage gegenwärtig einer der bedeutendsten politischen Journalisten. Er dürfte hinreichend bekannt sein, so dass ich darauf verzichten kann, ein Loblied auf seine publizistische Arbeit zu singen, zumal es hier konsequenzlos bliebe.
Im Mai-Heft des Cicero (05 / 2009) hat „der bekennende Stimmverweigerer“ in einem Artikel mit dem Titel "Das wollen wir NichtWähler" für grundsätzliche, um nicht zu sagen: radikale Änderungen in der Struktur dieses Staates plädiert. Den einen oder anderen Vorschlag hat man schon vorher von der einen oder anderen Seite vernehmen können. Steingart hat die geläufige Kritik an der repräsentativen Demokratie auf einen ungewöhnlich kurzen Sieben-Punkte-Forderungskatalog komprimiert. Dies ist ebenso neu wie die Häufigkeit und die Intensität, mit denen dieses „Programm“ in etablierten Medien verkündet wird.

Gabor Steingarts Artikel "Das wollen wir NichtWähler" darf folglich als ein Manifest des neuen liberalen Populismus gelten.
Günter Gloser, Bundestagsabgeordneter für die SPD und Staatsminister für Europa, stellte in einem Leserbrief die Frage „Wollen die Nichtwähler das wirklich?“ Er wurde im Juni-Heft des Cicero (06 / 2009) veröffentlicht. Online ist er auf Günter Glosers Homepage zu finden.
Ich unterstütze Glosers Einwände in allen Punkten. Wegen der m.E. grundsätzlichen Bedeutung dieser Hinweise stelle ich diesen Beitrag auch auf diese Webseite – mit der freundlichen Genehmigung des Autors.

Werner Jurga, 09.06.2009

Günter Gloser:

Wollen die Nichtwähler das wirklich?

Sehr geehrter Herr Steingart,

danke für Ihren Artikel und die Aufklärung über die Wunschliste eines Nichtwählers. Ich möchte kurz aus der Sicht eines Praktikers der Politik darauf antworten.

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1. Der Bürger-Präsident
Eine direkte Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger würde die Position des Bundespräsidenten oder der Bundespräsidentin stark politisieren. Wollen wir das? Soll der oder die Populärste, Kantigste oder Eloquenteste den Staat repräsentieren? Ich meine, dass wir aus der Erfahrung des Kriegshelden Paul von Hindenburg gelernt haben sollten. An der Spitze des Staates muss eine Persönlichkeit stehen, die integer, neutral und vor allem besonnen ist. Nur so jemand kann zum Beispiel bei schwieriger Regierungsbildung erfolgreich moderieren. Politischer sollte ein Präsident nicht sein.

2. Parteienstaat
Viele Menschen wollen sich nicht einer bestimmten Partei anschließen. Das ist jedermanns gutes Recht. Mancher ärgert sich darüber, wie viel Einfluss die Parteien haben. In einem Staat ohne (offizielle) Parteien würden sich Meinungen und Machtinteressen in Gruppierungen und Netzwerken organisieren. Wäre das besser? Nein. Denn Netzwerke im Dunklen müssen keine Rechenschaftsberichte, keine Parteiprogramme und auch kein Personaltableau aufbieten, um ihre Ziele zu erreichen. Parteien aber schon. Kontrollierte Parteien, unter denen man auswählen kann, sind besser als unkontrollierbarer Klüngel.

3. Volksabstimmungen:
Sie schreiben, es hätte nie ein solches Abstimmungsverhalten bei Volksabstimmungen gegeben, wie es Helmut Schmidt unterstellt. Schauen sie sich doch mal genau an, wie die Diskussion in Irland verlaufen ist: Da haben die Menschen nicht über den Vertrag von Lissabon abgestimmt, sondern über Abtreibung, Militäreinsätze und Steuerpolitik. Obwohl nichts davon im Vertrag berührt wird, wurde er mit genau diesen Argumenten niedergestimmt. Auch die Ablehnung der EU-Verfassung bei der Volksabstimmung in Frankreich 2005 war wohl eher ein Referendum über die damalige Regierung als über den Vertrag. Deshalb stimme ich Helmut Schmidt nach wie vor zu: Viele Entscheidungen, die heute von der überwältigenden Mehrheit der Menschen getragen werden, wären bei Volksabstimmungen durchgefallen.

4. Listenkandidaten
Da Sie ja bekennender Nichtwähler sind, nehme ich an, dass Sie keiner Partei zuneigen. Allerdings tun Sie der bayerischen CSU einen großen Gefallen. Würde nämlich — wie von Ihnen angeregt — nur direkt gewählt, gäbe es so gut wie keine Abgeordneten der bayerischen SPD, der FDP, der Grünen oder der Freien Wähler in München oder Berlin. Dabei würden auch alle Stimmen verloren gehen, die für unterlegene Kandidaten abgegeben wurden. Schauen Sie lieber einmal genau hin, welche Listenabgeordneten und welche direkt gewählten Abgeordneten eine gute oder schlechte Arbeit machen. Nur dies sollte Kriterium für eine Bewertung sein, nicht das Wahlsystem.

Mir scheint ein Großteil Ihrer Ausführungen abgehoben und wirklichkeitsfremd. Ich kann Ihnen so nicht zustimmen. 

Günter Gloser, 03. Juni 2009

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