Die Zeit - anfangslos wie die Gesellschaft
Es ist unsere tiefsitzende Gewohnheit, alles, alle Prozesse, so zu analysieren, daß wir einen Anfang und ein Ende setzen. Wir müssen unsere Wahrnehmung begrenzen, wir müssen Themen abstecken; denn wir unterliegen dem Zwang zur "Komplexitätsreduktion" (Luhmann). Wenn wir etwas untersuchen wollen, weil wir etwas machen müssen, sind wir gezwungen, an irgendeinem Punkt anzufangen, um an irgendeinem späteren Punkt "fertig zu werden". Dies ist nicht weniger als eine notwendige Zweckmäßigkeitserwägung, aber eben auch nicht mehr. Unzutreffend wird es, wenn es bspw. heißt: "Unsere Erfahrung sagt uns, daß alles, was existiert, einen Anfang gehabt hat. Etwas anderes können wir uns nicht vorstellen, können wir nicht begreifen." * Es ist richtig, daß mit dem Verzicht auf die gedankliche Konstruktion eines Anfangs das Vorstellungsvermögen meist überschritten, zumindest jedoch extrem strapaziert wird; daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, oder aber, wie es im zitierten Beispiel geschieht, dies kann nicht auf ein vermeintlich erlerntes Tatsachenwissen zurückgeführt werden, daß alles einen Anfang habe. Denken und Handeln erfordern das Setzen eines Anfangs bzw. mehrerer Anfangspunkte. Es liegen jedoch keine Erfahrungen über Anfänge vor, die nicht ihrerseits Entwicklungsresultate sind. Dagegen gibt es einen schier unerschöpflichen Erfahrungsschatz, daß die falschem Stolz geschuldete Annahme, man sei "der erste", sich im günstigen Fall als Illusion erweist. Bei Ausbleiben dieser Enttäuschung bleibt der beschränkte Blickwinkel erhalten.
Jurga: Die politische Dimension von Zeit ..., Duisburg 1999.
* Boschke, F. L.: Zeit, das unverstandene Phänomen, S. 179.
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