Die nackten Kinder von Walsum

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Ein Gespenst geht um in Duisburg, das Gespenst der Nacktheit.

Es ist (noch?) nicht so weit gekommen, dass Flitzer in den Straßen unser Schamgefühl mit nackten Füßen treten; dafür ist es nach dem verfrühten Wintereinbruch auch eindeutig zu kalt. Aber ein Diskussionsprozess ist über unsere sittsame Stadt gekommen – auch und gerade im Internet.
Und wer sich so alles an der Debatte über Nacktheit beteiligt! Selbstverständlich das deutsche Nackt-Forum der FKK-Freunde und das nackte Forum; das ist klar, da reden ja Leute vom Fach. Aber so ist Duisburg: Alle reden mit: Männer und Frauen, Eingeborene und Eingewanderte, Liberale und Reaktionäre, Bildungsprivilegierte und normale Menschen, besorgte Mütter und böse Väter. Schließlich: was nackt ist, weiß ja jeder. Und in Sachen Kindererziehung ist jeder ein Experte; denn jeder war selbst einmal ein Kind.
Die Debatte überschreitet alle Grenzen aus Nationalität, Geschlecht und sozialer Stellung, da darf man sich nicht wundern, dass die Meinungen ganz erheblich auseinandergehen. Auch nackt sehen eben nicht alle gleich aus. Da die Diskutanten mitunter nicht einmal vor Beleidigungen zurückschrecken, ist es an der Zeit, ein gewisses Maß an distanzierter Sachlichkeit beizusteuern.

In der WAZ hat Dieter Greese damit begonnen; der Landesvorsitzende des Kinderschutzbundes NRW hat einen Artikel geschrieben mit dem Titel

„Nacktheit ist etwas Natürliches"

Greese meint es gut, und deswegen will er auch niemanden verletzen. Das ist beides recht löblich, passt aber nicht so ganz zu seiner Absicht, klipp und klar anzusagen, wie es zu laufen hat. Was dabei dann herauskommt, sind Sätze wie dieser:

Wem Religion und Kultur Nacktheit vor Fremden verbietet, der darf die anderen, für die Kindernacktheit wesentliches Element der Sinnesentwicklung ist, nicht behindern oder gar ausgrenzen.

Alles klar? – Was Greese sagen will, bedeutet – frei übersetzt – etwa: die verklemmten Türken mögen sich mit ihrem Geschrei bitte nicht so in Szene setzen – in der Absicht, den Deutschen ihre hinterwäldlerischen Regeln aufzwingen zu wollen. – Alles klar! Dies ist zwar eine Selbstverständlichkeit; doch sie muss immer und immer wieder vorgetragen werden. Auch und gerade, wenn es um Kindererziehung in städtischen Kindertageseinrichtungen, also Kitas der Stadt Duisburg geht. Wenn der oberste Kinderschützer dies denn schreiben wollte, warum hat er es dann nicht gemacht?
Schlimmer noch: so wie Greese es formuliert, geht so ziemlich alles daneben. Zur Erläuterung: die anderen, das sind wir, deren Vorfahren damals im Teutoburger Wald die alten Römer verkloppt hatten, und für die Kindernacktheit wesentliches Element der Sinnesentwicklung ist. Warum dies so ist, hat Greese vorher im Artikel erklärt.
Allerdings hat sich auch die Mehrheitsgesellschaft seine Auffassung noch nicht in Gänze zu eigen gemacht. Ein flüchtiger Blick in die Blogs bspw. der WAZ zum Thema genügt, um zu erkennen, dass es auch Deutsche gibt – ich sage es mal mit Greeses Worten -, denen
Religion und Kultur Nacktheit vor Fremden verbietet.

Mir zum Beispiel. Und ich denke: trotz allem sozio-pädagogischem Psycho-Gelaber letztlich auch Herrn Greese. Denn er ist zivilisiert und weiß deshalb, dass man – abgesehen von einer Handvoll „Sonderzonen“ - nicht nackt herumzulaufen hat. Und es ist nicht nur so, dass er es weiß. Er würde nicht einmal auf die Idee kommen, unbekleidet bspw. einen Kindergarten in Walsum zu betreten oder auch nur daheim zum Bäcker Brötchen kaufen zu gehen. Es ist weniger die Strafandrohung, die ihn und uns alle davon abhält, nackt Fremden gegenüber zu treten. Vielmehr ist uns der Fremdzwang zum Selbstzwang geworden. Ob nun “Nacktscham eine Universalie ist, dass es also  keine Zeit und Kultur gab, in der Nacktheit alltäglich gewesen” (FR, 11.04.2002), oder aber erst im Prozess der Zivilisation entstanden ist, seit vielen Jahrhunderten ist klar:

Wir sind zivilisiert: wir ziehen uns etwas an

Genau dies hätten, schreibt eine WAZ-Leserin ebenso zutreffend wie „bodenständig“, die Erzieherinnen einigen Kindern bescheiden sollen, als sie den Wunsch auf Nacktheit äußerten. Zumal wir es im Duisburger Norden mit Menschen zu tun haben, die auf ein rigoroses zivilisatorisches Korsett angewiesen sind bzw. sein werden. „Lockerungsübungen“ können erst dann in Betracht gezogen werden, wenn der Selbstzwang (hier in Bezug auf Nacktheit !) „sitzt“, wenn also der Prozess der Gewissensbildung sicher die gegenwärtige Stufe erklommen hat.

Nicht alle Eltern des Kindergartens Josefstraße stehen schon 100%ig sicher auf dieser Stufe. Die Kinder ohnehin nicht, wen wundert´s: sie müssen es erst noch lernen; denn kein Kind kommt zivilisiert zur Welt.
„Wir sind zivilisiert: wir ziehen uns etwas an“, ist den Kindern nicht gesagt worden. Dies wissen wir, auch wenn wir sonst nicht viel wissen. Eben weil dieser einfache Satz nicht gefallen ist! Deshalb der „Tumult um Nackte im Kindergarten“, wie die WAZ titelte; deshalb die Gerüchte und Horrorgeschichten in und um die Josefstraße. Jedes Kind und jeder Erwachsene legt noch mal ein „Schüppchen“ drauf. Beim überwiegenden Teil des Tratsches handelt es sich erkennbar um Unsinn. Wenn allerdings Herr Aksakal behauptet, ein Mädchen - wohlgemerkt: ein Kindergartenkind - sei an der Brust berührt worden - wohlgemerkt: von einem anderen Kindergartenkind -, halte ich das für durchaus glaubhaft. Dass Aksakal dieses vermeintliche Ereignis überhaupt für erwähnenswert hält, finde ich auch nicht weiter überraschend; schließlich spricht er ja auch im Zusammenhang von nackten kleinen Kindern von „Pornographie“. Und schaltet die Staatsanwaltschaft ein.

Der Duisburger Soziologe Ulrich Steuten schrieb 2005:

Hintergrund dieser Vorstellungen und Verhaltensweisen ist der Gedanke, dass in mediterranen Gesellschaften vielfach zwischen der Ehre des Mannes und der der Frau klar unterschieden wird. Die männliche Ehre wird zudem über die der Frau definiert. Zu den Pflichten der Frau gehört demzufolge, sich vor einem schlechten Ruf zu bewahren, der durch ungezügeltes expressives Verhalten in der Öffentlichkeit erworben wird. Als Pflicht der Männer wird angesehen, das Verhalten der Frauen zu kontrollieren und gegebenenfalls zu sanktionieren, also dafür zu sorgen, dass sie sich ehrenhaft verhalten und keine Schande über die Familie bringen. Bei Verstößen gegen die Regeln der Ehre – und selbst bei Mutmaßungen oder Gerüchten über schamloses Verhalten – obliegt es den Männern der Familien, für die Wiederherstellung der Familienehre zu sorgen.

Aber Aksakals „Tumult“ schließen sich nicht nur andere Migranten an; auch große Teile der deutschstämmigen Eltern machen bereitwillig mit. Was sich hier zusammen gebraut hat, hat nichts mit Integration zu tun. Dagegen hat es viel mit der Suche nach „Ehre“ und mit den Defiziten an Bildung zu tun.

Viele Menschen im Duisburger Norden sind „nackt“, ohne Chancen, ohne Bildung, ohne „Ehre“. Das wissen eigentlich alle; auch die Leiterin des Kindergartens Josefstraße weiß das. Die Leute wünschen sich keine pädagogischen Experimente à la 1968. Sie erwarten – die Zwielichtigkeit des Wortes ist klar – Respekt. Und darauf haben sie einen Anspruch. Alle, auch die Dümmsten, die Reaktionärsten, die Lautesten. Auch sie verdienen Respekt! Sie sind schon in fast jeder Hinsicht „nackt“ genug; da muss nicht auch noch in der Kita „Nackedei“ gespielt werden.

Werner Jurga, 23.11.2008

                                                                                               Fortsetzung: Milli Görus und Kreuz Nett

 

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