Der Tiefpunkt ist erreicht

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Das auflagenstarke Wirtschaftsfachblatt Stern stellt heute die Frage:

War das schon der Tiefpunkt?

Ich will Sie nicht groß auf die Folter spannen; deshalb mache ich es kurz: JA.

Schauen Sie: seitdem ich mit dieser Website im Netz bin, habe ich regelmäßig wirtschaftsprognostische Kolumnen veröffentlicht und mich dabei mutig und unerschrocken gegen den Mainstream der ökonomischen Zunft gestellt. Als die hochbezahlten Professoren noch Wachstumsraten von zwei Prozent zu erblicken glaubten, hielt ich – und zwar wiederholt – mit meiner Kassandra-Prophezeiung vom Absturz dagegen.
Puh, ganz schön Dusel gehabt! Die Wirtschaft ist zusammengebrochen. So ein Glück hat man natürlich nicht alle Tage und nicht einmal ich. Also will ich Fortuna nicht überstrapazieren und reihe mich jetzt in der mir eigenen Bescheidenheit in die herrschende wirtschaftwissenschaftliche Sichtweise ein. Das wäre es dann gewesen. Mein Name, Datum und fertig.
Klar, das kann ich natürlich nicht machen. Das wäre ja so, wie wenn am Sonntag Abend im Tatort um halb neun der Mörder in Handschellen abgeführt würde, die beiden Kripo-Beamten noch einen Smalltalk über das Geschehene führen, Abspann und Aus. Anders ausgedrückt: dann wäre dies hier keine Kolumne, sondern eine Mogelpackung. Also sehe ich zu, dass ich die Zeilen noch voll bekomme. Aber ich will auch jetzt nicht mogeln. Ehrlich gesagt: im Grunde war´s das. Viel passiert jetzt nicht mehr. Klicken Sie ruhig weg!

Für die ganz Neugierigen folgt eine etwas genauere Erläuterung. Es wurde immer und immer wieder erzählt, und es ist richtig: wir befinden uns mitten in der schwersten Rezession seit der Großen Depression. Heute wird gemeldet, z.B. von der Deutschen Welle:
Die deutsche Wirtschaft ist im ersten Quartal mit minus 3,8 Prozent so stark geschrumpft wie noch nie in der Geschichte der Republik. Die Bundesregierung hofft auf Besserung im Verlauf des Jahres.
Und die Bundesregierung hofft mit gutem Grund. Mehr als 3,8 Prozent Minuswachstum werden wohl nicht mehr zusammenkommen. Ein Tal wurde abgetragen, ein Loch wurde aufgebaut (frei nach Bert Brecht). Die Weltwirtschaft schlittert nicht in eine Große Depression; denn die Kernschmelze des Finanzsystems konnte verhindert werden. Ein gewisses Restrisiko ist noch da, normal; aber mit hoher Wahrscheinlichkeit haben die Milliarden und Abermilliarden, die die Regierungen weltweit in das Bankensystem gepumpt haben, den großen Crash verhindern können.
So what? Wenn das die größte Krise sein soll, warum dann so ein Geschrei? Man merkt irgendwie noch gar nicht so richtig was von ihr, und jetzt sagt selbst Jurga, dass es das im Grunde war.
Also heißt es Cool bleiben. Die Zeit titelte gestern: 

Cool in der Krise

Gut zu wissen, dass die Deutschen cool geblieben sind und cool bleiben. Das schreibt auch nicht nur die Zeit, das schreiben alle, also ist es wohl auch so. Aber so schön wie die Zeit schreibt sonst niemand, dass die Deutschen ganz schön auf Zack sind.
Es ist kein happy go lucky - Volk, das sich hier zeigt, eher sind es Bürger mit Sinn für die Realität. Ein anderes System? Nein danke!
Birgit Franz, die Chefin der Anwaltskanzlei Leinemann & Partner, demonstriert den Optimismus in der Oberklasse und macht sich dafür extra die Arbeit, neben einem Jaguar zu posieren. Klar, dass sie sich sagt: Kein Klassenkampf, trotz Krise.
Da wäre die Frau Franz ja auch ganz schön blöde, wenn sie etwas Anderes sagte. Und die von der Zeit dargestellten Umfragen belegen eindrucksvoll, dass auch Millionen Andere ganz ähnlich denken wie die Birgit mit dem Jaguar, mithin folglich ebenfalls nicht ganz so blöde zu sein scheinen.
Richtig, denn den Absturz – ich kann es nur wiederholen – haben wir hinter uns. Ob der Tiefpunkt damit erreicht ist, hängt vor allem davon ab, wie wir Tiefpunkt definieren. Also der Absturz, das sind also diese 3,8 % runter gewesen.

War denn nicht schon von fünf oder gar sechs Prozent runter die Rede gewesen? – Nein, wir sprechen hier über einen Quartalsvergleich, nicht etwa über einen Jahresvergleich. Aufpassen! Im ersten Quartal 2009 wurden 3,8 % weniger Güter produziert und Dienstleistungen erbracht als im vierten Quartal 2008. Im Vergleich zum ersten Quartal 2008 beträgt das Minus sogar 6,7 %. Aber keine Sorge: ab jetzt verlangsamt sich ja der Abschwung. Insofern ist eigentlich noch nicht der Tiefpunkt erreicht; denn es geht ja weiter abwärts. Aber so einen Quartalsvergleich von minus 3,8 % schaffen wir eben auch nicht mehr. Insofern liegt der Tiefpunkt hinter uns.
Sie dürfen diesen Absatz selbstverständlich gern noch einmal lesen.

Und noch etwas: die Rede ist hier vom BIP, also dem Bruttoinlandsprodukt. Das ist gemeint, wenn in den Medien der schon immer etwas irreführende und gegenwärtig stark irreführende Begriff Wachstum fällt. Schwamm drüber. Die Rede ist hier jedenfalls nicht von den Steuereinnahmen – die waren heute auch in den Medien: sieht ja gar nicht gut aus. Zum Beispiel auch wegen der stark abnehmenden Beschäftigung, von der überhaupt noch keine Rede war. 

Die Ruhe nach dem Sturm 

Die Financial Times Deutschland (FTD) schreibt heute:
So schrecklich der Einbruch der deutschen Wirtschaft auch ist: zumindest für die Industrie ist damit die Talsohle erreicht.
Das sagte ich ja bereits. Nein, die haben nicht von mir abgeschrieben. Ich von denen? – Dann aber nicht richtig. Nicht richtig abgeschrieben. Ich hätte dann nämlich vergessen: zumindest für die Industrie …
Na und?
Den deutschen Arbeitnehmern steht das Schlimmste dagegen noch bevor.
Ach so. Schade.

Das liegt – in aller Kürze – daran, dass der Arbeitsmarkt ein Spätindikator ist. Ab diesem Sommer werden die Entlassungswellen übers Land rollen. Nochmal ein Lob an die Politik: so wichtig wie die Konjunkturpakete waren und sind auch die Kurzarbeiterregelungen. Und dennoch: bald geht es los. Und der nächste Winter wird schrecklich. Ob schon am Anfang nächsten Jahres die magische Grenze von fünf Millionen Arbeitslosen erreicht sein wird, wie ich glaube, oder erst Ende 2010, wie die Institute und die Regierung annehmen, der Trend ist klar.
Für 2010 rechnet die Bundesregierung mit einem Wachstum von 0,5 Prozent. Die Institute dagegen mit minus 0,5 Prozent. Die Beschäftigungsschwelle – das ist das Wachstum, ab wann wieder eingestellt wird – liegt deutlich höher. Mindestens zwei, wenn nicht noch mehr Prozent Wachstum müssten es schon sein, wenn die Arbeitslosigkeit auch mal wieder etwas sinken soll. Damit ist allerdings auf Jahre nicht zu rechnen, weil die deutsche Wirtschaft für die Zeit nach der Krise überhaupt nicht aufgestellt ist. Der Exportweltmeister ist viel zu exportabhängig. Wir werden es mit einem L-Verlauf zu tun haben. Will heißen: nach dem steilen Absturz verharrt die Ökonomie auf diesem Niveau. Keine Große Depression, nur eine lange Stagnation. 

Aber das ist erstens Miesmacherei, und zweitens hier nicht das Thema. Heute haben wir Grund zu feiern; denn der Tiefpunkt ist erreicht! 

Werner Jurga, 16.05.2009

 

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