Der 18. Brumaire

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Entschuldigung, ich hätte da mal eine Frage: haben Sie morgen schon etwas vor? Ich meine: etwas Besonderes. Nicht?
Da wüsste ich etwas: machen Sie doch einfach mal eine Revolution. Es ist höchste Zeit. Morgen ist nämlich der 9. November oder, wie wir in Revolutionskreisen zu sagen pflegen, der 18. Brumaire. Da macht man so was schon mal, eine Revolution. Wenn Sie also nichts Anderes vorhaben – vielleicht fällt Ihnen ja etwas ein zum 18. Brumaire.

Nun stellen wir uns einmal erstens ganz dumm und zweitens diese Fragen: was ist der Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich? Was der zwischen einem Krieg und einem Bürgerkrieg oder zwischen einer Revolution und einem Putsch? Was ist der Unterschied zwischen einem organisierten Biker und einem Soldaten? Und wenn wir lang genug über all diese Fragen nachdenken, stellt sich uns unvermeidlich die folgende: Was ist der Unterschied zwischen einem Rockerkrieg und einer deutschen Revolution?
Aber eins nach dem anderen, immer streng nach meinem Motto: jetzt wächst zusammen, was nicht zusammen gehört.

Eine Revolution zum Beispiel – schön und gut. Aber man kann auch alles übertreiben. Nehmen wir mal die Franzosen. 1789 haben die ja ganz schön zugelangt. Ob es daran liegt, dass noch heute von der Französischen Revolution gesprochen wird?
Jedenfalls passte den Herren Revolutionären auch unser ganzer Kalender nicht, weil angeblich die Kirche da ihre Finger mit im Spiel gehabt haben soll. Und da haben sie ihn einfach abgeschafft. Revolution! Und weil es so ganz ohne Termine auch nicht geht, haben sie einen anderen eingeführt, nämlich den Republikanischen Kalender. Und so geschah es, dass der 9. November 1799 auf einmal auf den 18. Brumaire VIII fiel.
Zufälligerweise fand in Frankreich an diesem Tag gerade ein Staatsstreich statt. Napoléon Bonaparte wurde zum Alleinherrscher und damit auch die Französische Revolution beendet.

Da war Karl Marx noch gar nicht auf der Welt. Deren Licht erblickte der große Meister der Revolution erst 1808, und zwar in Trier. Und weil es von dort bis nach Frankreich nur ein Katzensprung ist, ließ er sich 1843 dort nieder. 1849 wollten ihn auch die Franzosen nicht mehr haben.
Marx zog weiter nach London, von wo aus er 1852 seine Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ veröffentlichte. Sie erschien erstmals in der New Yorker Zeitung „Die Revolution“. Im „18. Brumaire“ legt Karl Marx eine in sich geschlossene Darstellung seiner Gesellschaftsanalyse und Geschichtsphilosophie vor.
Grandios: die ganze Geschichtstheorie macht sich fest am 18. Brumaire, also am 9. November. Dabei konnte Karl Marx noch gar nicht wissen, wie sie weiterlaufen wird, die Geschichte. Über Revolutionen, sicher – da war dem alten Marx alles klar. Aber dass man sich in Deutschland darauf versteift hat, selbige grundsätzlich am 18. Brumaire, also am 9. November, durchzuführen, das konnte Marx wirklich nicht ahnen. Das nenne ich Respekt!

18. Brumaire

1918 war es endlich auch in Deutschland so weit. Revolution! Am 9. November 1918 in Berlin. Nun können wir sie freilich nicht – in Anlehnung an die Franzosen – einfach die „Deutsche Revolution“ nennen. Wir haben davon nämlich eine ganze Menge vorzuweisen. Weil die Russen ein Jahr zuvor die Oktoberrevolution veranstaltet hatten, setzte sich hier der Begriff „Novemberrevolution“ durch. Sie müssen bedenken: das konnten die ja damals noch nicht wissen, dass die Deutschen ihre schönen Revolutionen grundsätzlich im November abziehen. Und zwar am 9. November.
Nach dem ersten Weltkrieg fand die Monarchie in Deutschland ihr Ende, nur 130 Jahre später als in Frankreich. Philipp Scheidemann proklamiert vom Reichstagsgebäude aus die „deutsche Republik“ und sein ehemaliger SPD-Parteifreund Karl Liebknecht im Berliner Schloss die Räterepublik. Beide am 9. November 1918 – das musste ja Streit geben. Und so waren mit den Ergebnissen dieses 9. November– so ist das nun einmal bei einer Revolution – längst nicht alle einverstanden.

Fünf Jahre hatte man still gehalten; dann ließ sich der wachsende „Wunsch nach Ordnung“ einfach nicht mehr im Zaum halten. Am 9. November 1923 schien sich in München eine günstige Gelegenheit zu bieten, dem sozialdemokratischen Chaos ein Ende zu bereiten:
„Proklamation an das deutsche Volk! Die Regierung der Novemberverbrecher in Berlin ist heute für abgesetzt erklärt worden. Eine provisorische deutsche Nationalregierung ist gebildet worden, diese besteht aus General Ludendorff, Adolf Hitler, General von Lossow, Oberst von Seißer.“
Diese nationale Revolution 9. November 1923 – heute bezeichnet als „Hitlerputsch“ – schlug allerdings fehl und deren Führer wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. „Wegen guter Führung“ durfte Adolf Hitler das Gefängnis jedoch schon nach sechs Monaten wieder verlassen. Der Revolutionsführer nutzte die Zeit zum Verfassen seines poltisch-programmatischen Grundlagenwerkes namens „Mein Kampf“.

Keine zehn Jahre später betraute der deutsche Reichstag den ambitionierten Politiker mit der Führung der Regierungsgeschäfte. Hitlers nationalsozialistische Regierung leitete einen wahrhaft revolutionären Prozess ein: die Demokratie wurde abgeschafft und ersetzt durch das sog. „Dritte Reich“.
Am 9. November 1938 organisierte und lenkte das Hitlerregime die sog. „Reichskristallnacht“. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstörten die Nazis im gesamten Deutschen Reich jüdische Einrichtungen, Schätzungen zufolge über 1400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe. Hunderte Juden wurden ermordet oder in den Selbstmord getrieben.
Bereits ab dem 10. November wurden mehrere Tausend Juden in Konzentrationslager inhaftiert; insofern markiert der 9. November 1938 den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Vernichtung der europäischen Juden bis 1945. Die „Reichskristallnacht“ gilt als unübersehbarer Auftakt zum Holocaust.

Nach 1945 waren die Deutschen zunächst einmal etwas revolutionsmüde. Es dauerte bis 1968, als endlich die Studentenrevolution aufräumte mit dem „Muff von 1000 Jahren“, der sich nicht nur „unter den Talaren“ der Professoren angesammelt hatte. Bereits am 9. November 1967, bei einer Rektoratsübergabe an der Universität Hamburg, entrollten Studenten öffentlich ein Transparent, dessen Text zur Parole der 68er-Bewegung werden sollte: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“.
Es wäre jedoch irreführend, von einer 68er-Bewegung zu sprechen. Vielmehr hat sie sich in den folgenden Jahren in etliche Zweige verästelt.
Kaum in Erinnerung geblieben sind dabei allerdings die Tupamaros West-Berlin. Sie hatten einfach nur Pech mit ihrer revolutionären Aktion. Am 9. November 1969 platzierten die Tupamaros West-Berlin eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus Berlin, die während einer Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht explodieren sollte. Die Bombe explodierte wegen einer überalterten Zündkapsel nicht, der Zeitzünder hatte sich allerdings ausgelöst. Die Bombe hätte das Haus zerfetzt und unter den 250 Teilnehmern der Gedenkveranstaltung viele Opfer gefordert. Unter den Anwesenden befanden sich auch der Berliner Bürgermeister und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski.

Ob nun die PLO / Al Fatah direkt in den Anschlag verwickelt war oder ob es sich einfach nur um eine Sympathiebekundung einiger 68er-Revolutionäre mit den Palästinensern gehandelt hatte, ist bis heute ebenso wenig geklärt wie die Rolle eines V-Mannes des Verfassungsschutzes bei dieser fehlgeschlagenen Aktion.
Vor vier Jahren warf Wolfgang Kraushaar in der taz die Frage auf, ob „Antisemitismus als die ausschlaggebende Wurzel für den Anschlag angesehen werden muss und inwieweit diese judenfeindliche Dimension für die Zerfallsphase der 68er-Bewegung als exemplarisch gelten kann.“

Lassen wir das. Gehen wir noch einmal zwanzig Jahre weiter und genießen die schönste aller deutschen Revolutionen, den 9. November 1989. Wahnsinn! So die beliebteste Parole der Revolutionäre, die über sich selbst – nicht ganz unzutreffend -skandierten: „Wir sind das Volk!“
Über diese Revolution müssen hier nicht viele Worte verloren werden. Die Erinnerungskultur an den 9. November 1989 ist ausgeprägt genug. Wie in den letzten Tagen werden Sie gewiss auch morgen ergreifende Berichte über diese schönen Stunden lesen, hören und sehen können. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen! Wahnsinn!
Denken Sie aber bitte auch an all die anderen deutschen Revolutionen, an unseren 9. November, an den 18. Brumaire! Deutschland hat wirklich etwas vorzuweisen. 

Der 9. November gehört uns! Damit Ihr Bescheid wisst, Ihr Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden und Alle! Es ist nicht gesagt, dass 1989 unser letzter 9. November war. Wir lassen uns nämlich nichts mehr gefallen. Wir wissen nämlich, was eine Revolution ist. Aufgepasst: eine Revolution nennt man es, wenn Rote und Juden mal so richtig Ärger kriegen.

Werner Jurga, 08.11.2009

 

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